Gabelstich?

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Gabelstich?

Beitragvon ju_wien » 20.02.2023 11:00

In der "Fachkunde Kleidermachergewerbe" von Salatsch und Werner (Wien, 1920) steht in der Materialkunde, dass es lange, halblange und kurze Nähnadeln gibt. Lange würden in der Damenschneiderei verwendet, wo "für den sogenannten Gabelstich und insbesondere zum Einziehen von Volants und Rüschen eine besondere Länge der Nadel erforderlich ist", halblange in der Herrenschneiderei und kurze von Schustern.

Gabelstich kenne ich nicht, Suchmaschinen liefern mir Chronikmeldungen über Verletzungen mit Gabeln. Auch die Suche nach Beschreibungen von Handstichen im Web und in alten Büchern war bis jetzt nicht erfolgreich. Wie also geht der Gabelstich?

Meine einzige Idee ist, dass der "Gabelstich" etwas mit Reihfäden (zum Einreihen von weiten Röcken, Rüschen, Puffärmeln ...) zu tun hat, denn ich glaube, dass ich im Zusammenhang mit Dirndln irgendwann den Ausdruck "aufgabeln" gelesen habe. Das wäre dann einfach eine Variante von Vorstich, wobei man immer mehrere Stiche macht, bevor man den Faden durchzieht.

Weiß jemand mehr?

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Re: Gabelstich?

Beitragvon ju_wien » 20.02.2023 12:48

Selbst gefunden, nicht den Ausdruck "Gabelstich", sondern "gabeln" - und dabei gelernt, dass ich das Einreihen in all den Jahren falsch gemacht habe! Und einen Expert_innenstreit habe ich offenbar auch gefunden ;)

Für gewöhnlich glaubt man, einreihen zu können, wenn man durch Gabeln mit der Nadel einige Vorstiche ausführt, die Nadel aus dem Stoff zieht und von neuem gabelt. Das hat jedoch mit fachgemäßem Einreihen nichts zu tun, denn bei diesem bleibt die Nähnadel von Anfang bis Ende einer Reihlinie im Stoff, ohne zwischendurch ausgezogen zu werden. Der Reihfaden muss der Länge des einzureihenden Teils entsprechen, die Reihnadel soll möglichst kurz sein. Man beginnt mit Knoten und befestigendem Rückstich, gabelt die Nadel in den Stoff und hält den Stoffrand zwischen Daumen und Zeigefinger beider Hände. Den Arbeitsanfang steckt man am Schoß fest, so daß der Stoffrand gestrafft werden kann. Nun schiebt man mit dem Mittelfinger der rechten Hand die von Daumen und Zeigefinger gehaltene Nadel vorwärts, während die linke Hand den Stoff vor der Nadel auf- und abbewegt. Die Nadel faßt stets einige Gewebefäden, führt also die Stiche aus, die höchstens 2 mm lang sein dürfen. Der Reihfaden zieht sich dabei von selbst nach; bei langen Reihlinien kann etwa in der Hälfte der Länge die Nadel einmal heraus und der Faden nachgezogen werden, so daß er da als Schlinge hängenbleibt. - Um die Stoffweite besser verteilen zu können, reiht man mindestens zweimal im Abstand von 1/2 - 1 cm. Die Fadenenden befestigt man zunächst, indem man sie mehrfach um senkrecht eingesteckte Stecknadeln wickelt. Erst wenn die Weite feststeht, werden die Reihfäden von links fest verstochen.


Quelle: Hilde Vavra: Grundlehre der Schneiderei, Leipzig, Berlin, 1935.

"Gabeln" ist also kein speziell österreichischer oder süddeutscher Ausdruck, sondern auch weiter im Norden üblich (gewesen). Es dürfte einfach das (gerade?) Einstechen der Nadel in den Stoff bezeichnen (was aber bei jeder Art von Stich passiert?) Zum Unterschied von Salatsch und Werner (für den Gabelstich sind Nadeln besonderer Länge erforderlich), verwendet Vavra möglichst kurze Nadeln. Die von ihr angegebene Stichlänge von 2 mm halte ich zum Einreihen für etwas kurz - da entstehen keine Fältchen, sonder nur winzige Kräusel. So enges Einreihen ist bei hauchdünnen Stoffen sinnvoll oder, wenn man gar nicht einreihen will, sondern nur einhalten, also keine Kräusel sichbar sein sollen, sondern der Stoff an dieser Stelle kürzer werden soll (vor allem bei Ärmelkugeln oder an der hinteren Schulternahtlinie oder wenn man irgendwo einen Abnäher vermeiden will und die Überweite oder -länge lieber einhält). Bei einem Baumwollrock, einer Schürze oder gezogenen Blusenärmeln würde ich eine Stichlänge von ca. 4 - 6 mm verwenden, viel länger nicht, da sich die gezogene Partie sonst schlecht weiter verarbeiten lässt.

Wenn man damit rechnet, dass man den Rock irgendwann in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten weiter machen muss, ist es übrigens schlau, die Reihfäden innen nicht zu vernähen, sondern zu verknoten und etliche cm hängen zu lassen.

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